
Ohne Grenzen verlieren Werte ihre Bedeutung und können der Gesellschaft nicht helfen, da sie weder Orientierung geben noch verantwortliches Handeln ermöglichen. Werte entstehen nicht einfach so, sondern immer innerhalb eines klaren Rahmens. Sie erhalten ihre Bedeutung, wenn sie durch Grenzen, zum Beispiel kulturelle oder rechtliche, einen Sinn erhalten. Ohne solche Grenzen wird ein Wert zu einer leeren Phrase, die weder Orientierung noch Verpflichtung schafft.
Ein Wert wie Freiheit wirkt beispielsweise nur dann, wenn er sich von Anarchie und autoritärer Fremdbestimmung abgrenzt. Toleranz braucht eine Grenze, sonst wird sie zu Gleichgültigkeit oder duldet sogar Intoleranz. Auch ein positiver Wert wie die Liebe wird ohne Abgrenzung zu einer grenzenlosen Selbstauflösung, die weder Verantwortung noch Fürsorge kennt. Grenzen sind also nicht schlecht für Werte, sondern machen sie erst möglich. Ohne Grenzen sind Werte bedeutungslos, man kann sie nicht konkret anwenden und sie verlieren ihre Orientierungskraft. Erst die Grenze macht einen Wert unterscheidbar, anwendbar und schützenswert.
Die antiautoritäre Pädagogik bedarf hier einer kritischen Betrachtung, insbesondere, wenn sie, wie A. S. Neill und Erich Fromm es tun, die Abschaffung alter Autoritäten mit dem Verzicht auf Regeln gleichsetzt. Neill betont in seinem Schulkonzept „Summerhill“ Freiheit von Zwang und Selbstbestimmung, missachtet dabei jedoch, dass Kinder Struktur und verlässliche Grenzen brauchen, um sich gut zu entwickeln. Neill weist zwar richtig auf die Probleme strenger Erziehung hin, ignoriert aber, wie Menschen reifen, wenn er vorschlägt, dass Kinder sich in weitgehend strukturlosen Umgebungen optimal entwickeln. Studien zeigen, dass gerade klare Regeln und Verantwortlichkeiten dabei helfen, Selbstkontrolle, soziales Verantwortungsbewusstsein und eine starke Werteorientierung zu entwickeln.
In seinem Buch „Die Furcht vor der Freiheit“ fordert Erich Fromm die Überwindung von Abhängigkeiten. Dabei übersieht er jedoch teilweise, wie wichtig Grenzen für die soziale Entwicklung sind. Seine Unterscheidung zwischen „autoritärer” und „rationaler” Autorität ist in der Praxis nicht eindeutig genug. Fromm erkennt zwar die Notwendigkeit berechtigter Autorität an. Es bleibt jedoch unklar, wie man in Erziehung und Gesellschaft die Balance zwischen notwendiger Begrenzung und übermäßiger Bevormundung finden soll. Fromms starkes Plädoyer für individuelle Selbstverwirklichung droht, in der Art und Weise, wie es von den antiautoritären Bewegungen der 1960er und 1970er Jahre aufgegriffen wurde, zu einer grenzenlosen Beliebigkeit zu werden. Das führt zu Orientierungslosigkeit und zum Zerfall gemeinsamer Werte.
Gerade Kinder und Jugendliche benötigen, um ein stabiles Wertesystem zu entwickeln, keine Auflösung aller Grenzen, sondern eine verständliche, offene und konsequente Vermittlung von Grenzen. Freiheit ohne Grenzen führt zu Beliebigkeit, Mitbestimmung ohne Regeln zu Orientierungslosigkeit und Selbstentfaltung ohne verantwortliche Korrekturen zur sozialen Vereinsamung. Die Grenze ist somit in einer wertebasierten Pädagogik nicht das Ende von Freiheit oder Entwicklung, sondern ihre Voraussetzung. Erst im Zusammenspiel von Freiheit und Grenze, Eigenständigkeit und Verantwortung, Entfaltung und Orientierung wird Bildung zu einem Reifeprozess: ethisch fundiert, sozial anschlussfähig und menschlich realistisch.
Werte, die nicht durch Grenzen definiert sind, entwerten sich selbst. Sie stehen nicht für Freiheit oder Offenheit, sondern für normative Beliebigkeit und funktionale Bedeutungslosigkeit. Eine Pädagogik, die dies übersieht, verwechselt emanzipatorische Erziehung mit strukturloser Beliebigkeit und gefährdet damit genau die Eigenständigkeit, die sie eigentlich erreichen will.