Im Interview: Martin Haase, Charisma-Experte

Sie haben sich intensiv mit Charisma in der Führung auseinandergesetzt. Was genau verstehen Sie unter Charisma?
Charisma ist eine komplexe soziale Kompetenz, die aus mehreren Komponenten besteht: rhetorisches Geschick, emotionale Intelligenz, Authentizität und visionäre Kraft. Es ist die Fähigkeit, andere zu inspirieren und zu beeinflussen, ohne dabei autoritär zu wirken. Charisma ist keine angeborene Eigenschaft, sondern ein Zusammenspiel aus persönlichen und sozialen Faktoren, das durch gezieltes Training gefördert werden kann.
Sie beraten seit fast vierzig Jahren Unternehmen und Führungskräfte. Jetzt leiten Sie das „Institut für charismatisches Führen“. Was hat Sie bewogen, sich intensiv mit dem Thema Charisma zu beschäftigen?
Während meiner jahrzehntelangen Arbeit als Berater für Unternehmen und Führungskräfte habe ich immer wieder festgestellt, dass rein fachliche Kompetenz allein nicht ausreicht, um Menschen zu inspirieren und langfristig erfolgreich zu führen. Besonders herausragende Persönlichkeiten verfügten über eine Ausstrahlung, die andere motivierte, ihr Vertrauen gewann und eine nachhaltige Wirkung erzeugte.
Dieser Eindruck hat mich dazu bewogen, Charisma systematisch zu erforschen. Ich wollte herausfinden, ob es sich dabei um eine angeborene Gabe handelt oder ob sich charismatische Führungsfähigkeiten gezielt entwickeln lassen. Meine Untersuchungen haben gezeigt, dass Charisma weniger eine Frage der Persönlichkeit als vielmehr der kommunikativen und sozialen Kompetenzen ist – also durchaus erlernbar. Dies war die Geburtsstunde des „Instituts für charismatisches Führen“, das sich wissenschaftlich fundiert mit den Mechanismen charismatischer Führung auseinandersetzt und praxisnahe Trainings für unterschiedliche Berufsgruppen anbietet.
In der modernen Führungsforschung wird oft argumentiert, dass Charisma überschätzt wird. Ist es wirklich so entscheidend für Führungserfolg?
Es gibt tatsächlich eine kontroverse Diskussion darüber. Während manche Studien betonen, dass harte Faktoren wie strategisches Denken oder Fachkompetenz wichtiger sind, zeigen andere Untersuchungen, dass charismatische Führungskräfte langfristig motiviertere und leistungsfähigere Teams haben. Charisma erleichtert die Kommunikation von Visionen und Zielen, was in dynamischen und unsicheren Zeiten besonders wichtig ist.
Sie sind vor allem im deutschsprachigen Raum unterwegs, haben aber auch Seminare und Trainings in China und anderen asiatischen Ländern sowie in osteuropäischen Ländern durchgeführt. Wird der Begriff Charisma in den verschiedenen Kulturen unterschiedlich bewertet?
Unbedingt. Der Begriff „Charisma“ hat je nach kulturellem Kontext eine stark variierende Konnotation. Im westlichen Kulturkreis, insbesondere in Europa und Nordamerika, wird Charisma oft mit Individualität, Überzeugungskraft und visionärem Denken assoziiert. Charismatische Führungspersönlichkeiten gelten hier als solche, die durch Eloquenz, emotionale Intelligenz und persönliche Strahlkraft Menschen für eine Idee gewinnen können.
In asiatischen Kulturen hingegen ist Charisma stärker an Werte wie Harmonie, Bescheidenheit und kollektive Verantwortung gekoppelt. In China beispielsweise werden charismatische Führungskräfte nicht primär als charismatische Einzelpersönlichkeiten wahrgenommen, sondern als diejenigen, die es verstehen, ein System so zu steuern, dass es langfristig Stabilität und Wohlstand gewährleistet. In Japan wiederum ist charismatische Führung eng mit der Kunst des Zuhörens und der subtilen Einflussnahme verbunden – eine autoritäre Selbstdarstellung, wie sie im Westen teilweise mit Charisma verbunden wird, wäre dort unpassend.
Auch in osteuropäischen Ländern gibt es Besonderheiten: Hier spielt oft die historische Erfahrung eine Rolle. Aufgrund der Vergangenheit autoritärer Herrschaftssysteme wird Charisma nicht selten mit Misstrauen betrachtet, da es mit Manipulation oder Machtmissbrauch assoziiert werden kann. Gleichzeitig gibt es aber auch eine tiefe Sehnsucht nach inspirierenden Persönlichkeiten, die neue Perspektiven eröffnen.
Hat sich die Bedeutung von Charisma im digitalen Zeitalter verändert?
Auf jeden Fall. In der heutigen, zunehmend digitalisierten Welt sind traditionelle Formen der Führung nicht mehr ausreichend. Charisma muss sich an neue Kommunikationswege anpassen. Führungskräfte müssen online genauso überzeugend wirken wie im direkten Kontakt. Digitale Charisma-Kompetenzen – wie eine fesselnde virtuelle Präsenz, authentische Online-Kommunikation und die Fähigkeit, trotz Distanz emotionale Nähe zu schaffen – sind essenziell geworden.
Viele assoziieren Charisma mit großen Rednern wie Martin Luther King Jr. oder Malala Yousafzai . Ist Charisma also vor allem eine Frage der Rhetorik?
Rhetorik ist ein bedeutender Faktor, aber nicht der einzige. Ein charismatischer Führer überzeugt nicht nur durch Worte, sondern auch durch nonverbale Signale, Körpersprache und emotionale Intelligenz. Menschen spüren intuitiv, ob eine Führungskraft authentisch ist. Wer Charisma auf bloße Rhetorik reduziert, riskiert, manipulativ zu wirken, was langfristig kontraproduktiv ist.
Zu Ihrer Klientel gehören neben Führungskräften aus der Wirtschaft auch Pfarrerinnen und Pfarrer. Wie unterscheidet sich das Charisma-Verständnis im wirtschaftlichen Kontext vom kirchlichen?
Das Charisma-Verständnis in diesen beiden Bereichen weist durchaus deutliche Unterschiede auf. In der Wirtschaft wird Charisma primär als eine Fähigkeit betrachtet, Menschen zu begeistern, strategische Visionen zu vermitteln und durch eine überzeugende Persönlichkeit geschäftliche Erfolge zu erzielen. Führungskräfte, die charismatisch wirken, setzen auf emotionale Intelligenz, Körpersprache, Rhetorik und oft auch eine gewisse Inszenierung, um ihre Botschaften kraftvoll zu vermitteln.
Im kirchlichen Kontext hingegen ist Charisma weniger an die Inszenierung einer Einzelperson gebunden, sondern stärker mit Authentizität, spiritueller Tiefe und Glaubwürdigkeit verbunden. Während wirtschaftliche Führungspersönlichkeiten oft durch ein hohes Maß an Selbstbewusstsein und extrovertierte Präsenz wirken, zeigt sich Charisma im kirchlichen Bereich häufig in einer Art „bescheidener Autorität“ – also in der Fähigkeit, Menschen durch innere Überzeugung und spirituelle Strahlkraft zu leiten, ohne dabei laut oder dominant aufzutreten.
Interessanterweise gibt es jedoch auch Parallelen: Sowohl in der Wirtschaft als auch in der Kirche hängt charismatische Führung von der Fähigkeit ab, Vertrauen zu schaffen, Menschen für eine gemeinsame Mission zu gewinnen und sie emotional zu erreichen. Das bedeutet, dass viele der Techniken, die wir im wirtschaftlichen Kontext lehren, auch für kirchliche Führungspersönlichkeiten anwendbar sind – allerdings immer mit einem sensiblen Blick für die unterschiedlichen Werte und Zielsetzungen beider Bereiche.
Gibt es also unterschiedliche Arten von Charisma??
Ja, und das ist ein wesentlicher Punkt. Es gibt visionäres Charisma, das durch eine klare Zukunftsvision inspiriert, relationales Charisma, das auf Empathie und zwischenmenschlicher Verbundenheit basiert, und autoritäres Charisma, das eher durch Dominanz und Kontrolle geprägt ist. Erfolgreiche Führungskräfte kombinieren meist mehrere dieser Formen, abhängig von der jeweiligen Situation und den Bedürfnissen ihres Teams.
Kann Charisma erlernt werden?
In gewissem Maße, ja. Manche Menschen haben eine natürliche Begabung für charismatisches Auftreten, aber viele der zugrunde liegenden Fähigkeiten – wie eine ausdrucksstarke Körpersprache, aktives Zuhören oder emotionale Intelligenz – lassen sich trainieren. Der Schlüssel liegt in der bewussten Selbstreflexion und dem kontinuierlichen Üben in realen Führungssituationen.
Gibt es auch Risiken, die mit charismatischer Führung verbunden sind?
Definitiv. Charisma kann sowohl konstruktiv als auch destruktiv eingesetzt werden. Historische Beispiele wie populistische Führer zeigen, dass Charisma auch missbraucht werden kann, um Massen zu manipulieren. Außerdem besteht die Gefahr der „Charisma-Falle“: Hochcharismatische Führungspersönlichkeiten neigen dazu, Widerspruch zu unterdrücken, weil sie sich ihrer eigenen Überzeugungskraft zu sicher sind. Eine gesunde Führungskultur braucht deshalb nicht nur Charisma, sondern auch kritisches Denken und eine offene Feedback-Kultur.
Abschließend: Welche drei Ratschläge würden Sie Führungskräften geben, die ihr Charisma entwickeln wollen?
Erstens: Entwickeln Sie eine klare, inspirierende Vision, die über rein wirtschaftliche Ziele hinausgeht. Zweitens: Hören Sie aktiv zu und zeigen Sie echte Empathie für Ihr Team. Und drittens: Arbeiten Sie an Ihrer nonverbalen Präsenz – Haltung, Gestik, Blickkontakt. Menschen folgen nicht nur Worten, sondern auch der Energie, die eine Führungskraft ausstrahlt.
Vielen Dank für das Gespräch!
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