In meinem Arbeitszimmer hängt eine Urkunde aus dem Jahre 1901, mit der meinem Großvater auf Befehl Seiner Majestät des Kaisers und Königs eine Denkmünze für seine Teilnahme als Matrose an einer Expedition nach China verliehen wurde. Mein Großvater war, wie man so schön sagt, ein Bär von einem Mann, mit beeindruckenden Tätowierungen am ganzen Körper und Händen so groß wie Kohlenschaufeln. Als Kinder waren wir immer begeistert, wenn er von seinen Abenteuern erzählte, wie er in den Hafenkneipen der Welt die Möbel verrückte.
Mit 50 Jahren bekehrte er sich zu Gott und änderte sein Leben um 180 Grad. Aus dem Draufgänger wurde über Nacht ein gläubiger Christ, der jeden Abend stundenlang die Bibel studierte. Als er über 80 Jahre alt war, begann er Cello zu spielen. Ein Lied aus dieser Zeit ist mir besonders in Erinnerung geblieben. Der immer noch stattliche Mann hatte sich Korken zwischen die nicht mehr so geschmeidigen Finger gesteckt, um die Töne noch richtig treffen zu können. Und so griff mein Großvater nicht nur liebevoll in die Saiten seines Instruments, sondern sang auch den Text dazu, frei interpretiert und mit stakkatoartiger Betonung: „Demut ist die größte Tugend, die der Mensch besitzen kann“.
Demut ist in vielen Kulturen und religiösen Traditionen ein wichtiger Wert und passt so gar nicht in unsere Welt der Selfies und der Selbstdarstellung. Tugend und Charakter sind aus unserem Wortschatz weitgehend verschwunden, doch angesichts der gesellschaftlichen Ohnmacht wächst die Sehnsucht nach verlorenen Idealen. Die Frage nach den Werten, Tugenden und Normen, die unser Denken und Handeln bestimmen, wird lauter.
In dem Managementbuch „Der Weg zu den Besten“ von Jim Collins wird Demut als eine Eigenschaft von besonders erfolgreichen Führungskräften mit so genannter Level 5-Führungskompetenz beschrieben.
Demut hat, wer
- die eigenen Stärken und Schwächen erkennt,
- andere dafür anerkennt, was sie tun,
- stets lernbereit und offen ist und
- versteht, dass er nur ein kleiner Teil eines größeren Ganzen ist.
Demut ist also die Bereitschaft, sich selbst und die eigenen Fähigkeiten nicht übermäßig in den Vordergrund zu stellen und sich anderen gegenüber nicht überheblich zu verhalten. Sie beinhaltet die Anerkennung der eigenen Grenzen und die Bereitschaft, anderen mit Respekt und Mitgefühl zu begegnen.
Demut steht im Gegensatz zu Hochmut oder Arroganz, wo jemand stolz, selbstgefällig und eitel ist. Paulus schreibt in seinem Brief an die Philipper 2,3: „Lasst nicht Eigennutz oder Eitelkeit euer Handeln bestimmen. Achtet vielmehr in Demut den anderen höher als euch selbst.“
In den folgenden Versen 6-11 wird Jesus als Vorbild für die Gemeinde dargestellt: „Er war von göttlicher Gestalt. Aber er hielt nicht daran fest, Gott gleich zu sein, wie ein Dieb an seiner Beute. Er legte die göttliche Gestalt ab und nahm die eines Knechtes an. Er wurde in allem den Menschen gleich. In jeder Hinsicht war er wie ein Mensch. Er erniedrigte sich selbst und war gehorsam bis in den Tod, ja bis zum Tod am Kreuz. Deshalb hat Gott ihn hoch erhöht: Er hat ihm den Namen verliehen, der hoch über allen Namen steht. Denn vor dem Namen von Jesus soll sich jedes Knie beugen im Himmel und auf Erden und unter der Erde. Und jede Zunge soll bekennen: »Jesus Christus ist der Herr!« Dies alles zur Ehre Gottes, des Vaters.“
Demut ist daher eine Grundvoraussetzung für geistliches Wachstum und ermöglicht die Beziehung zu Gott. Philipper 2,13: „Denn Gott macht, dass ihr nicht nur das tut, was ihm gefällt. Er sorgt vielmehr dafür, dass ihr es auch könnt!“
Demut verbessert die zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht nur im Gemeindeleben, indem sie die Fähigkeit fördert, zuzuhören, zu lernen und auf die Bedürfnisse anderer einzugehen. Sie trägt dazu bei, Konflikte zu reduzieren und Menschen zu ermutigen, kooperativ und respektvoll miteinander umzugehen.
Demut ist eine Eigenschaft, die in vielen Lebensbereichen geschätzt wird und zu einem harmonischen und friedlichen Zusammenleben beiträgt.
Auch im Gemeindekontext gilt, bescheidene Leiter wissen, dass sie fehlbar sind. Wenn sie Fehler machen, ist das kein Schlag ins Gesicht, sondern ein normaler Teil des Lebens. Deshalb fällt es ihnen leichter, über Fehler zu sprechen, sie zu analysieren, aus ihnen zu lernen – und sie schließlich zu korrigieren. Längerfristig sind demütige Leiter deshalb erfolgreicher als andere.
Grundsätzlich schließen sich Selbstbewusstsein und Demut keineswegs aus. Eine ehrliche Selbsteinschätzung bei gleichzeitiger Offenheit gegenüber anderen stärkt auch die Wahrnehmung der eigenen Kompetenz. Es stimmt, dass in den Gemeinden oft nach starken Persönlichkeiten gerufen wird, die über die lokalen Grenzen hinaus wahrgenommen werden. Auf der anderen Seite sind es häufig bescheidene Schwestern und Brüder, die gute Arbeit leisten, auch wenn sie nicht im Rampenlicht stehen. Übrigens: Auch wer im Rampenlicht steht, kann bescheiden agieren.
Man muss unterscheiden zwischen der Außendarstellung und der Selbsteinschätzung, wie man wirklich ist. Demut hat vor allem mit Letzterem zu tun, auch wenn das nach außen den Eindruck von Bescheidenheit erwecken mag. Dennoch darf man die beiden nicht verwechseln. Denn demütige Gemeindeglieder und Gemeindeleiter können sich durchaus positiv nach außen darstellen, gerade wenn es um Leistung geht.
Jeder kann Demut lernen, jeder kann sich demütiger verhalten. Dazu muss in unseren Gemeinden eine positivere Einstellung zu dieser Eigenschaft entwickelt werden, denn leider wird Demut oft mit Unterwürfigkeit gleichgesetzt, obwohl es darum geht, als neuer Mensch zu leben. Kolosser 3,12: „Gott hat euch zu seinen Heiligen erwählt, denen er seine Liebe schenkt. Zieht daher das neue Gewand an. Es besteht aus herzlichem Erbarmen, Güte, Demut, Freundlichkeit und Geduld.“
© Martin Haase | Institut für charsmatisches Führen – oKae management support